In der 8. oder 9. Klasse hatte ich Turnen im Sportunterricht. Nachdem mir auffiel, dass für das Reck und den Barren meine Wackelpuddingmuskulatur in den Oberarmen nicht ausreichend war, um mich überhaupt an dem Gerät hoch zu ziehen, war mein absoluter Favorit der Schwebebalken. Meine Liebe dazu hing sicherlich auch damit zusammen, dass ich mit vier Jahren begann Ballett zu tanzen. Demnach wusste ich zu dieser Zeit, dass meine Füße vieles vollbringen können, ich gelenkig bin und sogar richtige Muskeln in den Beinen habe. Ergo: Ich fühlte mich wie ein Olympionike auf dem Gerät, obschon ich sicherlich eher Eddie the Eagle glich. So wie es der Name des Turngeräts bereits beinhaltet, schwebte ich förmlich darüber. Hüpfte, schlug ein Rad, eine Radwende oder versuchte mich in verrückten Drehungen. So schwierig und halsbrecherisch die einzelnen Elemente auch waren hatte ich nie die Furcht vor dem Fall. Ich war unbeschwert und versuchte mich eben aus. Wenn ich fiel, dann fiel ich. Wenn ich mich verletze, dann verletzte ich mich.
Ich bin neidisch auf mein damaliges Ich. Diese Unbeschwertheit und Sorglosigkeit ist eine Gabe, die ich mir sehnlichst zurück wünsche. Umso älter ich werde, desto mehr Gedanken mache ich mir. Desto mehr Verantwortung trage ich und desto erwachsener werde ich. Niemand hat mir vorher gesagt, dass erwachsen sein so anstrengend ist. Dass man sich ständig Sorgen macht, alles versucht zu analysieren und strategisch Denken muss. Schmerzlich vermisse ich die Zeit, als meine schwierigste Entscheidung war, einen passenden Nachnamen für meinen Sim bei „The Sims“ zu finden. Kein Wunder, dass die Spiele der 90er uns halb-erwachsene so packen: Wir wissen noch nicht so richtig wohin mit uns. Sitzen irgendwo zwischen den 90ern und dem 21. Jahrtausend fest, schwanken zwischen Teenager und Young Adult. Wir versuchen Verantwortung für uns selbst zu tragen und schießen uns am Samstagabend letztendlich doch nur mit Tequila ab. Für mich ist der Tanz auf dem Schwebebalken zu einer Mutprobe geworden. Die Angst vor dem Fall ist allgegenwärtig und begleitet mich auf Schritt und Tritt. In meinem Beruf wundere ich mich bei jedem Kundengespräch, dass derjenige wirklich auf mich hört. Dass er eine ernsthafte Einschätzung von mir möchte und sich auch tatsächlich auf die Meinige verlässt. Ich habe was zu sagen. Wenn auch nicht viel. Aber ich sage etwas und man hört mich. Besser noch, man hört mich nicht nur, man hört auch noch auf mich. Wie aus einem Kind, das gerne auf den Apfelbaum im Garten klettert, auf Geburtstagen am liebsten A-Zerlatschen spielt und heimlich um 22:15 Uhr den Fernseher einschaltet, um Grey’s Anatomy zu schauen, jemand geworden ist, der einen verantwortungsvollen Job hat, ist mir ein einziges Mysterium.
Viel zu oft finde ich mich auf dem Schwebebalken wieder, wo ich nach rechts und links blicke, mich selbst frage, ob ich die nächste Übung wirklich schaffen kann und letztendlich meine Chancen gegeneinander abwäge. Einerseits vermisse ich das Unbeschwerte, andererseits kann man es sich nicht mehr in jeder Situation erlauben. Man wird dazu gezwungen Entscheidungen zu treffen, Risiken einzuschätzen und realistisch seine Chancen abzuwägen. Es gehört nunmal zum Prozess des Erwachsenwerdens dazu. Auch wenn ich nicht beschwingt über den Balken hüpfe, sondern eher wackelig einen Fuß vor den anderen setze, versuche ich dennoch irgendwie durchzukommen und mit einem passablen Ergebnis zu bestehen. In der Schule und auch im Studium hatte ich immer den Ansporn gute Noten zu erlangen und zu den besseren Schülern zu gehören. Dieser Vorsatz gilt im echten Leben längst nicht mehr. Vielmehr versuche ich mich irgendwie durch zu mogeln und zu bestehen. Und so höre ich die Worte meines Lehrers im Seminarfach wieder in meinen Ohren: „5 Punkte!! 5 Punkte und ihr habt bestanden, alles andere ist egal.“ Auch wenn ich nur ein 5 Punkte-Leben habe, ist es dennoch mein Leben, in dem ich selbstbestimmt und frei sein kann. Letztendlich ist dieses Gefühl viel besser als damals das Schweben auf dem Schwebebalken.