90-60-90. Eine Folge bestehend aus sechs Ziffern und drei Zahlen. Ein numerischer Code, der das Leben einer jeden Frau bestimmt. Täglich. Insgesamt ist das Leben als Frau nüchtern mit Zahlen zu beschreiben: Die Anzeige auf der Waage, der Fettgehalt der Milch, die Kalorienanzahl auf der Müslipackung, die Summe der Kohlenhydrate und natürlich die Schrittzahl am Ende des Tages.

Die Australierin Taryn Brumfitt fällt auf. Und das nicht wegen ihrer knallroten Brille, die sie auf der Nase trägt. Vor vier Jahren veröffentlichte sie auf ihrem privaten Facebook-Account zwei Bilder von sich. Es sind Vorher-/Nachher-Bilder ihres Körpers. Taryn ist Mama von drei wunderschönen Kindern, weshalb sich ihr Körper nach den Schwangerschaften sichtbar veränderte. Diese Veränderung wurde für sie zu einer zunehmenden psychischen Belastung. Sie verlernte schlichtweg sich selbst zu lieben. Um den Blick in den Spiegel wieder mit positiven Gefühlen zu entgegnen, fasste sie den Entschluss, mit einem Personal Trainer an sich zu arbeiten. Ihr Tag startete um 5 Uhr morgens im Fitnessstudio, erstreckte sich über diverse Low-Carb Mahlzeiten und endete völlig erschöpfend im Bett. Und das jeden Tag, 24/7. In der Hoffnung endlich wieder Freude in Bezug auf ihren Körper zu spüren. Letztendendes nahm sie sogar an einem Bodybuiliding-Wettbewerb teil. Sie hatte es geschafft. Ihr Bauch war flach, die Arme durchtrainiert und der Hintern hing endlich nicht mehr. Aber glücklich war sie dennoch nicht. An diesem Punkt begriff Taryn, dass kein Sixpack der Welt sie glücklich machen könnte, sondern nur sie selbst. Taryn schloss Freundschaft mit ihrem Körper und fing an ihn so zu akzeptierten, wie er nun einmal ist. Sie begann wieder zu leben und nicht mehr ihren Alltag von Zahlen und Sport bestimmen zu lassen.

Dies war der Zeitpunkt, an dem sie die Vorher-/Nachher-Bilder von sich veröffentlichte. Eines als durchtrainierte, dünne Frau und eines als glückliche, kurvige Frau. Die Resonanz: unglaublich. Millionen von Frauen kontaktierten und fragten sie: „Wie schaffe ich es, meinen Körper zu lieben?“. Eine so einfache Frage, aber eine Antwort darauf zu finden ist schwer. Darum machte sich Taryn auf den Weg in die Welt. Sie verließ für neun Wochen ihre Familie und begab sich auf eine Reise zu verschiedenen Frauen, um nach Antworten zu suchen.

          Picture taken from https://www.facebook.com/bodyimagemovement/

Das Ergebnis dieser Reise zeigt sie in dem Dokumentarfilm „Embrace“, den die wunderbare Nora Tschirner mitproduzierte. Dieser wurde deutschlandweit einmalig am 11. Mai in über 210 Kinos ausgestrahlt. Den Titel zum Film hätte man nicht besser wählen können. Als ich im Kino saß fühlte ich mich in jeder Sekunde geborgen und teilte den Kinosaal plötzlich mit hunderten von neuen Freundinnen. „Embrace“ ist ein Meisterwerk. Und das nicht, weil die Bilderwelten faszinierend schön sind oder wegen unglaublicher Special-Effects. Er ist ein Meisterwerk, weil jede einzelne Frau durch diesen Film darüber nachdenkt, wer sie ist und wer sie sein möchte. Und zwar weil 90 Minuten lang fantastische Frauen ihre Gedanken teilen, die jeder von uns schon einmal hatte.

Besonders die Geschichte der Schriftstellerin Turia Pitt berührte mich. Bei einem Ultramarathon im australischen Outback überraschte sie ein Buschfeuer, das 60% ihres Körpers verbrannte. Bei vollem Bewusstsein erlebte sie, wie sie Feuer fing und ihr gesamtes Leben mit den Flammen verschwand. Vor dem Unfall hatte Turia eine makellose Haut. Sie gehörte wohl zu den Menschen, die man als „bildhübsch“ betitelt. Nach dem Unfall hat sie ein anderes Gesicht. Eine andere Haut. Ein anderes Leben. Diese Frau schaffte es, den Umstand zu akzeptieren, dass sich ihr Körper auf eine Weise veränderte, den sie sich niemals hätte vorstellen können. In dem Film sagt sie, dass es nach der Tragödie nur eine Möglichkeit für sie gab: Entweder daran zu zerbrechen oder das Beste daraus zu machen. Sie entschied sich für letzteres und geht sogar soweit zu sagen, dass der Unfall mit das beste Ereignis ihres Lebens gewesen sei. Wow! Viele Erfahrungen hätte Turia niemals gesammelt, wenn dieser Moment nicht gewesen wäre. Dass es für Turia eine Nahtoderfahrung war, ist sicherlich ein Grund für ihre bedingungslose Akzeptanz. Dennoch beeindruckt mich ihr mutiger Umgang mit ihrem Schicksal sowie Turias schier unendliche Selbstliebe, dass sie am Ende sogar positive Gefühle mit dem Unfall verbindet. Eine Frau, die in Flammen stand und ihr gewohntes Leben verlor ist mit sich sowie allen schrecklichen Geschehnissen im reinen.

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In diesem Moment saß ich im Kino und konnte nur noch an eines denken: Warum zur Hölle konnte ich dann einfach nicht den Umstand akzeptieren, große Brüste zu haben? Warum konnte ich meinen Köper nicht genau so lieben, wie er war? Ich finde ehrlich keine Antwort auf diese Fragen. Jahrelang versuchte ich mich so zu lieben wie ich war. Probierte meine Brüste als „Freund“ anzusehen, um jedes Mal wieder daran zu scheitern. War ich zu schwach? Hätte ich noch tougher sein müssen? Vielleicht.

Mein Körper ist mein Freund und mein Zuhause. (Nora Tschirner)

Plötzlich habe ich das Gefühl, mich für meine Entscheidung – durch eine Operation meinen Körper zu verändern – rechtfertigen zu müssen. Ich weiß, dass es totaler Schwachsinn ist. Aber der Umstand, dass ich in diesem Fall keine Stärke bewies, nagt an mir. Vor der Operation fragte ich mich: Wieso tue ich das? Mache ich es für mich? Werde ich deshalb glücklicher und zufriedener? Alle drei Fragen konnte ich eindeutig bejahen. Darum denke ich, dass die Freiheit, selbst über seinen Körper bestimmen zu können, die ultimative Definition von Unabhängigkeit und Selbstliebe ist. In der Retrospektive betrachtet, machte ich jede Diät, jede Übung im Fitnessstudio oder jeden Verzicht auf Kohlenhydrate nicht wegen mir, sondern wegen Anderer. Ich wollte einer bestimmten Person gefallen oder einfach so aussehen wie die Frauen in der Vogue. Wollte einen flachen Bauch, kleine Brüste, einen Knackarsch, eine Thigh Gap und keine Winky Tinkys mehr an meinen Oberarmen. Letztendlich wurde jeder einzelne Tag von diesen Gedanken bestimmt. Also Frage ich mich: Wann sind unsere Körper wichtiger als unsere Persönlichkeit, Intelligenz und unser Intellekt geworden? Wann hat man aufgehört smart zu sein und begonnen sich nur durch Äußerlichkeiten zu definieren? Erst wenn wir im Inneren schön sind, haben wir den Mut und die Kraft auch unser Äußeres zu akzeptieren und zu lieben.

Ihr wunderschönen Butterblumen da draußen, vergesst nie wie einzigartig ihr seid. Wie atemberaubend und wertvoll Euer Innerstes und wie egal die Meinung Anderer über Euren Körper ist. #ihaveembraced